Violettes Düsseldorf – Quadriennale 2010
Violett über Düsseldorf – Foto: Michael Willy, 2009
Früher gab es für die Menschen wenige Gründe, ihren Blick zu erheben. Außer natürlich, um Wetterphänomene zu überprüfen oder um Gott zu suchen. Später wurden Maschinen erfunden und plötzlich kamen aus dem Himmel Bomben, mit und ohne Rosinen. Heutzutage ist es immer noch sinnvoll, gelegentlich nach oben zu schauen, sei es, um Taubenexkrementen auszuweichen, oder aber um Flugdaten auszuwerten. Sollte man zumindest meinen. Tatsächlich braucht man jedoch nur Fotos und Skulpturen, um rückblickend einen ganz bestimmten Flug zu analysieren. Mit Holz und Alltagsgegenständen kann man sogar ins All reisen. Und das alles in einer Stadt.
Ich bin ein kunstaffiner Neuankömmling in Düsseldorf, kenne die Stadt noch nicht, und nähere mich ihr zunächst aus der Vogelperspektive. Kunstgegenwärtig schaue ich auf eine Karte, die die Museen der Rheinmetropole verzeichnet. Offensichtlich wird Kunst hier groß geschrieben, und das nicht nur, weil sie auch in dieser Stadt – wie im Deutschen üblich – ein Nomen ist. Jan Wellem sei Dank! Die Karte ist gespickt mit violetten Punkten, die für Museen stehen.
Was für eine Überleitung bietet sich mir da an! Museen – die Heiligtümer der Musen. Musen, Schutzgöttinnen unter anderem der bildenden und der Dichtkunst. Liegt hier der Zusammenhang zwischen Thomas Klings Gedichtband Auswertung der Flugdaten aus dem Jahr 2005 und der gleichnamigen Ausstellung in K21? Und noch ein Zusammenhang fällt sofort ins Auge: Auch Kling war Düsseldorfer und es geht in der Ausstellung um die Düsseldorfer Perspektive auf die Kunst der 1980er. Verblüffend.
Aber um bei der vermarkteten Metapher zu bleiben: Angelockt vom medienübergreifenden Ansatz lande ich, als modernes Subjekt, in K21 und stelle fest, dass bestimmt ein ganz wichtiger Weg, den das Moderne-Flugzeug zurückgelegt hat, der der Fotografie ist. Seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert hat sie bildende Künstler von der anspruchsvollen Aufgabe entbunden, die Realität wiederzugeben. Die Menschen gingen lieber den zeitsparenderen Weg zum Porträt statt tagelang für einen Maler zu posieren. Und auch Landschaften und Gebäude waren fotografisch wiedergegeben irgendwie „realer“. Fotografische Kunst konnte man deshalb jahrzehntelang nur in schwarz-weiß finden. Bis sich Stephen Shore, ausgestellt im NRW-Forum, in den 1970er Jahren bewusst für Farbfilm und alltägliche Motive wie rote Bullis entschied. Ein neuer Blickwinkel auf das, was Fotografie kann. Und in K21 erfahren wir: Das moderne Foto-Flugzeug ist in den 1980er Jahren dank der übernehmenden Piloten Gursky & Co. gelandet. Fotografie ist endgültig Teil der bildenden Kunst, und kunstvoll ist seitdem sogar das Ruhrtal (Andreas Gursky, 1989).
Bildende Kunst ist heutzutage im besten Falle der individuelle Ausdruck einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Durchaus in diesem Sinne vertretbar und einprägsam werbeinszeniert sind große Namen wie Joseph Beuys und Nam June Paik. Ersterer steht für erlebte kreative Freiheit, die sich zum Beispiel in Sauerkrautwerfen mit dem Ziel Notenpult und – parallel – toten Hasen ausdrückt. Mit Beuys‘ Werk und Namen schmückt sich K20 nun erneut. Zweiterer ist ein Pionier der Videokunst und arbeitete nach dem Motto „Kunst ist Leben, Leben ist Kunst“. Er provozierte gerne mit allem, was ihm zur Verfügung stand: Buddha, eine Cellistin und natürlich immer dabei – Bildschirme. Aktuell zu sehen im museum kunst palast.
Beide Künstler waren Professoren an der hiesigen Kunstakademie. Beide engagierten sich in der Fluxus-Bewegung. Beide bemühten sich um eine neue Perspektive auf die Möglichkeiten, die Kunst bieten kann. Stellten das Erleben vor das Gebrauchen und versuchten, das Publikum mitzureißen. Inwiefern das im Einzelfall gelungen ist, soll hier nicht diskutiert werden. Aber es muss nicht immer eine Ladung Butter in einer Ecke sein, die das Publikum ohne Anleitung von fachkundiger Seite aus der „falschen“ Perspektive betrachtet. Es gibt Menschen, die mit gespannter Stirnmuskulatur beispielsweise vor einer Beuysschen Collage stehen und angestrengt versuchen, sie zu verstehen. „Gut, dass es den Titel gibt“, freuen sie sich, wenn sie die Inschrift Collage von 1964: Schokoladentafeln auf beschriebenem Papier in einem Metallkasten lesen. Und dann gehen sie weiter, während sie im besten Fall denken: „interessante Kombination“.
Aber so wenig der Otto-Normal-Kunstkonsument mit manchen Fluxus-Werken anfangen kann, ihre Botschaft soll dabei nicht untergehen. Kunst kommuniziert und das Wie, das muss man erleben – mit allen Sinnen und, so pathetisch es auch klingen mag, mit ganzer Seele. Sei es unvoreingenommen, persönlich, subjektiv, oder um eine neue Perspektive, nämlich die des Künstlers und seines soziokulturellen Hintergrundes im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Kunst ist deshalb zwangsläufig kontrovers. Was Kunst ist und was nicht und vor allem wie sie empfunden wird, liegt im Auge des Betrachters – und in dem des Geldgebers.
Ist die Stimme eines Künstlers nicht medienwirksam einsetzbar, wird sie häufig überhört. Oft aber ist gerade sie das Besondere an seinem Werk. Marcel Broodthaers, überzeugter Bohemien und eher eine Randfigur in der Künstlerwelt, entschied sich bewusst für seine Künstlerehre. Wie er trotzdem – oder gerade deshalb – Künstler der (realen) Gegenwart beeinflusst hat, wird in der Kunsthalle Düsseldorf gezeigt. Eine ähnlich ausgeglichene innere Achse fand James Lee Byars vielleicht bei der Erschaffung von Objekten und Skulpturen, die paradoxerweise den perfekten flüchtigen Augenblick festhalten sollen (Stiftung Schloss und Park Benrath). Still und leise kommt die Ausstellung in der Akademie-Galerie daher – zumindest was die ausgestellten Arbeiten angeht. Ohne technisches Brimborium werden variantenreiche Zeichnungen ehemaliger und aktueller Schüler und Lehrer gezeigt. Einfache Mittel wie von Hand geführte Stifte und Papier wurden verwendet.
Ob nun pompös oder hauchzart, Künstler haben sich immer bemüht, Techniken weiter zu entwickeln und dabei dem Publikum neue Perspektiven und ästhetische Erlebnisse zu bieten. Im 15. Jahrhundert erfand Filippo Brunelleschi die Zentralperspektive. Leonardo da Vinci malte seiner Gioconda verrauchte Mundwinkel mit dem Ergebnis, dass die Betrachter seit Jahrhunderten von ihrem geheimnisvollen Lächeln fasziniert sind. Die Impressionisten erzeugten mit Pinselstrichen farbige Schatten, die, wenn der Betrachter ein paar Schritte zurück tritt, dem menschlichen Auge einzigartige optische Eindrücke beschert. Ohne an dieser Stelle einen direkten Vergleich ziehen zu wollen – auch Düsseldorfer Künstler sorgen für neue Kunsterlebnisse. Katharina Sieverding projiziert ihre bereits vor der Erfindung der digitalen Fotografie kreativ bearbeiteten Bilder als Collagen an die Wände des inter media art insitute. Katharina Grosse lässt den Passanten mit ihrer überlebensgroßen Ellipse an der Fassade der Johanneskirche, je nach Perspektive, immer wieder neue Situationen dank ihrer Kunst erleben. Björn Dahlem stellt Himmelstheorien auf, indem er ein dreidimensionales Weltall mit ausgefeilten Lampenkonstellationen, Styropor und Holzlatten in einen Tunnel (KIT) installiert.
Egal, in welche Richtung ich in Düsseldorf schaue, an neuen Perspektiven mangelt es nicht. Die Quadriennale, mein violetter Eindruck von der Stadt, war nur der Lockvogel für weitere spannende Ausflüge meiner Vorstellungskraft.
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