Schwere Kost
Yüksel Arslan: „Arture 535, Walseries“, 2000, Mixing technique, 41 x 45 cm, Courtesy Sinan Berent Koleksiyonu
In meiner Vorstellung sitzen die Künstler der Avantgarden des 20. Jahrhunderts auf dem Boden in Paris oder im Rheinland, trinken Absinth oder Bier, diskutieren über existenzielle Fragen des Lebens und streiten darüber, was Kunst eigentlich ist, immer auf der Suche nach der „echten“. Ihre oftmals als Gegenstück bezeichneten Kollegen, die Wissenschaftler, zeichneten vor der digitalen Revolution mit zarten Linien millimetergenau detaillierte Skizzen mit Bleistift und Tusche auf Papier oder Pergament: die menschliche Anatomie, noch unbekannte Pflanzen und andere botanische sowie faunistische Entdeckungen.
Die Kunsthalle zeigt bis zum 24. Juni Yüksel Arslans Arbeiten auf Papier (artures) seit 1959, die wie eine Synthese der sich scheinbar widersprechenden Herangehensweisen an das Leben erscheinen. So entspringen den wissenschaftlich genau wiedergegebenen Vogelschnäbeln komplizierte Tonfolgen auf Notenpapier. Exakt gezeichnete Bäume rufen den Menschen zu sich. Ein naturgetreu wiedergegebener Hund teilt dem Künstler spöttisch mit: „Ta peinture est idiote“ (dt.: „deine Malerei ist idiotisch“).
Scheinbar sachliche, wissenschaftliche Untersuchungen entpuppen sich als zerlegende Studien von Nicht-Greifbarem: Mythen, Glaubenssätze und kulturelles Erbgut. Der 1933 in Istanbul geborene Yüksel Arslan, seit 1962 wohnhaft in Paris, seziert wie ein Wissenschaftler aus Morgen- und Abendlandperspektive bis ins Kleinste Götter, Politik, Philosophie, die Kunst. Metaphorisch arbeitend fügt er der menschlichen Anatomie, äußerlich wie innerlich, tierische Körperteile und Gegenstände hinzu. Mischwesen – menschliche Körper mit dem Kopf eines Tieres – dominieren.
Arslan stellt Fragen. Was beeinflusst den Künstler? Und er antwortet bereits mit der Erstellung seiner Arbeitsmaterialien: auch die Natur, die in der Steinzeit die Bestandteile der Farben lieferte. Für seine verwendet Arslan ebenfalls Blüten, Gras, pflanzliche Extrakte, Öl, Kohle, Steine und auch Körperflüssigkeiten. Seltsamerweise tendiert das Ergebnis meist in Richtung Braun, wie verschütteter Kaffee, wie vergilbtes Papier, es überwiegen erdige Töne. Was jedoch den Eindruck, vor altem, wissenschaftlich fundiertem Wissen zu stehen, weiter verstärkt.
Das komplexe 20. Jahrhundert, als es noch keine PCs und schon gar kein Internet gab, kann man sich durch die Brille des Yüksel Arslan anschauen. Und bei der Auswahl der Topthemen hat er sich keine Kinkerlitzchen vorgenommen.
Vor 50 Jahren wie heute und ein halbes Jahrtausend zuvor: der Zusammenstoß von Christentum und Islam. Jesus als Schäfer trifft auf den Kamelreiter Mohammed, der ebenfalls eine Herde anführt. Zwei Religionen, die eigentlich Liebe und Vergebung predigen, prallen immer wieder im Streit um die Vorherrschaft aufeinander.
Der Zusammenstoß politischer und wirtschaftlicher Großmächte und Massenphänomene: Kapitalismus, Kommunismus, Imperialismus, Kolonialismus, Industrialisierung. Themen, die beispielsweise den sozialkritischen Karikaturisten Honoré Daumier beschäftigten, welcher in diesem Zusammenhang von Arslan porträtiert wird.
Der Zusammenstoß von Mann und Frau. Sexuelle Begierden, Perversionen und Möglichkeiten, diese auszuleben, auch mithilfe von Tieren und Flaschen. Studien zu Vereinigungsmöglichkeiten von Tieren inklusive Zoom auf den entsprechenden Penis. Ein Porträt von Van Gogh – sein Ohr hat Arslan durch männliche Geschlechtsteile ersetzt. Immer wieder Phallussymbole und eine eingehende Beschäftigung mit der Darmaustrittsöffnung, die man dank Freud plötzlich mit psychischen Zuständen in Verbindung brachte.
Die kühlen Räumlichkeiten der Kunsthalle bilden einen fast schon wohltuenden Kontrast zu den aufmerksamkeitsverlangenden Arbeiten – hohe Decken, nüchterne Wände, Platz. Auch die Vogelperspektive wird dem Besucher geboten: Vom Balkon aus blickt man auf Mosaiksteine unserer irdischen Kultur, die wiederum kleinere Steine enthalten, die wiederum kleinere Steine enthalten, die wiederum kleinere Steine … Und wenn man die Augen auf unscharf stellt (oder die Brille absetzt), verschwimmt alles ein bisschen zu einem vielleicht nicht ganz ach so wichtigen Brei aus Einzelteilen. Drumherum der Ozean. Oder das All. Oder die blau gestrichenen Wände. Wie man es nennen möchte.
Die eigenartige Sogwirkung der Ausstellung, die den Besucher in einen ambivalenten Strudel aus Interesse, Widerwillen und Faszination hineinzieht, wird leider durch die ungeschickte Hängung der Bilder unterbrochen. Nur ein nicht zu groß gewachsenes Kind (das hoffentlich nicht Teil der Zielgruppe ist) könnte sich bequem der unteren Bildreihe aufmerksam widmen. Sogar für einen verhältnismäßig kleinen Erwachsenen stellt sich die zwangsläufig zeitintensive Beschäftigung mit den unteren Werken als mühsames Unterfangen heraus.
Die beiden ergänzenden Ausstellungen erweisen sich bei der Fülle an, um es neudeutsch auszudrücken, Input eigentlich als überflüssig – wenn auch nicht als uninteressant, erweitern sie den Besuch doch mit Dado um eine makabre, brutale Interpretation menschlicher Abgründe und mit Carol Rama um Tabubrüche aus weiblicher Sicht. Schwindelig und, bei empfindsamen Gemütern, mit ein bisschen Kopfweh entlässt die Kunsthalle ihre Besucher. Keine leichte Kost für einen gemütlichen Museumsbesuch, aber für ausgeschlafene Menschen mit gesundem Magen durchaus zu empfehlen.
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