Ausgedehntes Gebiet
Aïda Ruilova: Still aus „Lulu“, 2007, Einkanal Videoinstallation mit Ton, 4:25 min. Größe variabel, Edition von 3 + 2 AP, mit Dan Burkharth, Adam Dugas, Thomas Zipp, Courtesy der Künstlerin, Galerie Guido W. Baudach, Berlin & Salon 94, New York
War Kurator Zdenek Felix in der letzten Ausstellung noch vorsichtig und verwies auf mögliche Leerstellen im Boden (Mind the Gap), dringt er nun mit Expanded Territory entschlossen in weitere Gebiete der zu fördernden zeitgenössischen Kunst vor.
Warum gerade die Kombination dieser Künstler? Was haben die vier aus unterschiedlichen Nationen außer der Generation, der sie entstammen, gemeinsam? Der Faden ist hier zwar nicht rot, aber immerhin dunkelrosa existent: Es heißt vage, ihnen sei die Erfahrung „eines Umbruchs der gesellschaftlichen und politischen Systeme“ gemein.
In der Tat, die Künstler, von denen zwei aus dem Westen (Italien, U.S.A.) und zwei aus dem Osten (Polen, Tschechien) stammen, sind Teil der Generation, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Auflösung der ideologischen Blöcke miterlebt hat. Es wundert daher nicht, dass sie nach neuen Wegen suchen, sich mit der Welt auseinander zu setzen, jenseits von absoluten Instanzen, offen für noch unbetretene Gebiete.
Den Besucher empfängt ein viereinhalb minütiges Video von Aïda Ruilova (U.S.A.), das nach ihren bisherigen Low-Budget-Produktionen ein qualitativ-hochwertiger Bruch bedeutet. Inspiriert von Frank Wedekinds Roman Lulu und unterschiedlichen Adaptationen agiert die gleichnamige Femme fatale bei Ruilova nicht als Frau. Drei Männer verkörpern hier statt ihrer unterschiedliche Aspekte der männlichen Schwäche, die die ursprüngliche Lulu zu ihrem Vorteil nutzte. Ein Mix aus freudscher Psychologie und Videokunst auf einer Reise in die unendlichen Tiefen und Abgründe der menschlichen Psyche. (Der Einsatz des Mediums wäre übrigens als Ergänzung zur Installation Folding Screen, 2007, wünschenswert gewesen, die ursprünglich zu einer Performance gehört hat.)
Ein ansprechendes, aber zu großen Teilen groteskes Alphabet (A – Z series, 2008) fungiert wie ein körperliches, plastisches Pendant zum Film. Die 26 Fotoreliefs hat die Künstlerin als unterhaltsames museales Quiz kreiert: Eine alphabetische Reihenfolge ist zwar vorhanden, aber es ist bei den meisten nicht sofort offensichtlich, welchen Buchstaben sie darstellen. Um diesen nachzuvollziehen muss sich der Besucher hauptsächlich mit körperlich-sexuellen Themen auseinandersetzen.
Agnieszka Brzeżańska (beim Aussprechen des Namens einfach nuscheln) aus Polen präsentiert wunderschöne Arbeiten, die sich mit mystischen Dimensionen beschäftigen. Ein tanzendes Zigeunerpaar, darüber einen Sternenhimmel gelegt (Gypsy dance, 2011). Wahrsagerinnen, schwarze Löcher (Occultation, 2009), organisch geschwungene Linien, die sich zu Herzen zusammenfinden (Choreography of a heart, 2009, und unbetitelte Vorarbeiten), glühende Insekten in der Nacht (insects dance, 2011) – sie alle führen in einen Makro- oder Mikrokosmos, ins Okkulte, Mystische.
Giulio Frigo (Italien) steht für eine philosophisch-intellektuelle Herangehensweise, sich neue Perspektiven anzueignen. Beispielsweise präsentiert er die Arbeit Materia disposta secondo intelligenza (2011), die von der Seite Aufmerksamkeit heischend, frontal zunächst befremdlich aussieht und bei näherer Betrachtung auf eine faszinierende Idee hinweist: Ein knallgrüner Romanesco hängt an unsichtbarer Schnur vor einem Ölgemälde, das zwei Philosophen, einer von ihnen Martin Heidegger, abbildet. Am Kohl faszinieren den Künstler die unendlichen Aufspaltungen, die immer kleiner werdenden Verästelungen. Heidegger sinniert, den Kohl betrachtend, vermutlich über Sein und Zeit und wie letztere die einzige Möglichkeit des Menschen ist, ersteres zu verstehen. Wir können uns vorstellen, wie sich der Kohl mit der Zeit immer weiter entwickelt und immer detailverliebtere, erkenntnisreichere Auswüchse hervorbringt. Erfahrung ist auch eine Lehre, die man aus der Vergangenheit zieht.
Und nicht nur mit neuen geistigen, sondern auch mit Raumperspektiven spielt Frigo. Schnüre führen aus Bildern heraus und in den Raum hinein. Dann hören sie plötzlich irgendwo auf (Mind the transparent thread!). Ein Bild kann man auch auf den Kopf drehen? Ja! Und bei Frigo hängt es dann sogar trotzdem „richtig“ herum. Ein Universum, wo oben und unten Nebensache sind und Schwerkraft keine Rolle spielt.
Psychologisch-analytisch setzt sich Eva Kot‘átková aus Tschechien mit ihrer Kindheit auseinander. Die schulischen Erfahrungen, die die Künstlerin mit Education System (2011) verarbeitet, wünscht man wirklich niemandem. Es fühlt sich nach einer längst vergangenen Ära an, in der von außen diktiertes Geradestehen eine große Rolle spielte: In der Ecke stehen, aufstehen wenn der Lehrer eintritt, gerade stehen, wenn man Schläge auf die Handfläche bekommt. Bei Kot‘átková werden Vögel von Hölzern gestützt, ihre Schwingen hängen nutzlos an der Seite. Die konstruierte Wirbelsäule eines Menschen, ein Mundkorb, Käfige springen aus Büchern und ersetzen Köpfe, was den Menschen stützt und intellektuell nährt wird zum Gefängnis, zur Tortur.
Fazit: Weitreichende Wege werden hier allemal beschritten. Ob die Künstler repräsentativ für ihr jeweiliges Land stehen können mag zwar zu bezweifeln sein, aber die Vielfalt der verschiedenen Ansätze, körperlich, mystisch, intellektuell, psychologisch, und deren künstlerische Umsetzung ist ein Besuch der Ausstellung wert. Nach der letzten, etwas enttäuschenden in Kai 10 eine Wohltat.
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