Die Weisheit des Dr. F.

1. Juni 2014
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Grundsätzlich halte ich es für durchaus wünschenswert, wenn Ärzte sich auch für den Menschen hinter der Krankheit interessieren. Aber ich erschien bei Dr. F. weder regelmäßig noch übersäht mit blauen Flecken. Ich hatte mich lediglich aus dem Bett gequält, um verschreibungspflichtige Medikamente gegen den grippalen Infekt zu besorgen, den ich mir selbst bereits diagnostiziert hatte.

Offenbar mangels Empathievermögen geriet Dr. F. in fröhliche Plauderlaune und fragte mich nach meinem Beruf. Mit Rücksicht auf meinen wunden Hals antwortete ich vage und mit spärlichen Worten. Dr. F. nahm dies jedoch zum Anlass, weiter zu bohren, bis er meine exakte berufliche Tätigkeit herausgefunden hatte, woraufhin er mich fragte, ob ich den Künstler L. kennen würde. Nein, krächzte ich leise und schaute möglichst leidend drein. Dr. F. empörte sich. L. müsse man doch kennen! Er deutete auf Originale, die in seiner Praxis hingen. An die Medikamente denkend versuchte ich, durch meine tränenden Augen hindurch die Gemälde des wohl berühmtesten mir unbekannten Künstlers zu erkennen. Ich nickte. Dr. F. geriet nun in Fahrt und freute sich offensichtlich über die Möglichkeit, endlich einem fachkundigen, wenn auch schmerzendem Ohr von L.s genialer Pinselführung vorzuschwärmen.

Wissen wir nicht alle, was jeder unbedingt wissen sollte? Vor Kurzem erwähnte ich einer lockeren Runde Wilhelm von Schadow. Eine unangenehme Pause entstand. Offenbar wollte sich niemand weiter zu einem unbekannten Adeligen äußern und stattdessen lieber ein brisanteres Thema anschneiden: Germany’s Next Topmodel. Mein Mangel an Kenntnis über Verhaltensweisen und Paarungsbereitschaft körperlich perfekter Frauen mit vermutlich niedrigem IQ erwies sich als enorm und bescherte mir halb sympathiebekundende, halb mitleidige Blicke.

Wer bestimmt darüber, was wissenswert ist und was nicht? Allgemeinwissen ist heutzutage ein ziemlich dehnbarer Begriff – und selbst die Bezeichnung des Universalgenies kann für einen Menschen, egal aus welchem Jahrhundert, niemals wirklich zutreffend sein. In unserer Gesellschaft, in der häufig gockelhaftes Halbwissen Erfolg hat, wäre ein bisschen Galgenhumor ganz erfrischend. Um es mit Platon zu sagen: Ich weiß, dass ich nicht weiß.

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